Marvin Steinberg ist der bekannteste DeFi-Experte im deutschsprachigen Raum und hat massgeblich zur Erweiterung der DeFi-Strukturen beigetragen. Als Krypto-Pionier war er schon beim ICO von Ethereum dabei und hat vor einiger Zeit das enorme Potenzial von DeFi erkannt. Aktuell verfasst er ein umfassendes Buch rund um dezentrale Finanzsysteme und möchte bis 2025 mindestens eine Milliarde Menschen von dessen Vorzügen überzeugen. Heute erklärt er uns die Grundzüge von DeFi und die Vorzüge, die das Finanzsystem revolutionieren könnten.

Bis zum Jahr 2008 haben sehr viele Menschen das bekannte Finanzsystem für stabil und relativ krisensicher gehalten. Mit der grossen Finanzkrise zeigte sich jedoch, dass es das nicht ist. Dass die Zentralbanken der Welt darauf mit einer deutlich stärkeren Regulierung und der Druckerpresse reagierten, hat die Aussichten für die Zukunft nicht verbessert. Mit der Digitalisierung und dem Aufkommen der Blockchain-Technologie kristallisiert sich jedoch eine Alternative heraus: DeFi. Diese hat das Potenzial, unsere Vorstellungen vom Finanzsystem neu zu überdenken und eine echte Revolution auszulösen.

DeFi ist mehr als nur ein Krypto-Trend

DeFi bedeutet so viel wie „decentralized finance“ und beschreibt ein dezentrales Finanzsystem. Da das System auf der Blockchain-Technologie basiert, wird es von vielen Aussenstehenden schnell als ein schnelllebiger Krypto-Trend abgetan. Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass dies nicht der Fall ist. „Vielmehr hat DeFi das Potenzial, den Menschen wieder die volle Entscheidungsgewalt über ihre Finanzen einzuräumen“, erklärt Marvin Steinberg. Um die Funktionsweise verstehen zu können, sollten wir uns zunächst das zentralisierte Finanzsystem (CeFi = aktuell vorherrschend) anschauen.

a) Wie unser herkömmliches Finanzsystem funktioniert

Unser heutiges bekanntes Finanzsystem wird zwar immer als marktwirtschaftlich bezeichnet, zeigt jedoch ein zunehmendes Mass an Regulierung. Dies liegt vor allem an den Intermediären (Mittelsmänner), die zwischen die Nutzer und den Markt geschaltet sind. Dazu gehören:

  • Banken
  • Broker
  • Finanzdienstleister

Über allem steht zudem die jeweilige Zentralbank (z.B. EZB oder Schweizer Nationalbank) eines Wirtschaftsraums, die wichtige Vorgaben macht. Sie legt nämlich entscheidende Zinsgrössen fest, die den Markt nach ihrem Willen gestalten. Im Falle der EZB sind das die Folgenden:

  1. Hauptrefinanzierungssatz

Die EZB kann durch die Vergabe von Darlehen an Geschäftsbanken die Geldmenge erhöhen. Der Hauptrefinanzierungszinssatz legt die Konditionen dafür fest. Je niedriger der Zinssatz, desto mehr Geld fragen die Banken nach.

Aktueller Stand (Oktober 2021): 0,00%

  1. Einlagenzins

Dieser Zinssatz legt fest, zu welchen Konditionen Geschäftsbanken ihr Geld bei der EZB anlegen können. Achtung: Alle Einlagen, die eine Geschäftsbank nicht anderweitig investiert (z.B. durch die Ausgabe von Krediten), gelten automatisch als Einlagen bei der EZB. Dies ist somit auch bei Guthaben von Kunden auf ihren Girokonten der Fall. Eine Bank könnte eventuelle Strafzinsen lediglich umgehen, wenn sie die Bestände als Bargeld oder in Gold einlagert.

Aktueller Stand (Oktober 2021): -0,50%

  1. Spitzenrefinanzierungszinssatz

Dieser Zinssatz beschreibt die Kosten, die Geschäftsbanken für eine kurzfristige Finanzierung über die EZB („über Nacht“) begleichen müssen. Dies gilt zum Beispiel, wenn sie mehr Geld investiert, haben als Einlagen zur Verfügung stehen.

Aktueller Stand (Oktober 2021): 0,25%

Die drei Zinssätze steuern zu einem nicht unerheblichen Teil das Verhalten aller Verbraucher. Der niedrige Hauptrefinanzierungssatz ist beispielsweise dafür verantwortlich, dass Spareinlagen wie Tagesgeld und Festgeld kaum noch Renditen einbringen. Warum sollten Geschäftsbanken ihren Kunden für Privateinlagen hohe Zinsen bieten, wenn sie Geld zum Nulltarif von der EZB erhalten? Zusätzlich sorgen die geringen Leitzinsen dafür, dass Kredite deutlich günstiger geworden sind. Mittelbar hat dies auch für den Boom am Immobilienmarkt gesorgt, der sich vor allem in Deutschland heute als Fehlallokation bezeichnen lässt. Die Folge: Mieten und Immobilienpreise steigen ins Unermessliche und in beliebten Regionen ist es kaum noch möglich, zu akzeptablen Preisen zu wohnen.

Der aktuell negative Einlagenzins animiert die Geschäftsbanken zusätzlich, die Zinsen auf Sparguthaben zu senken. Schliesslich müssten sie dafür bei der EZB Strafzinsen bezahlen. Die Folge für Verbraucher: Schon grössere Guthaben von Kontoinhabern (5.000 bis 10.000 Euro) werden von den Geschäftsbanken ebenfalls mit Strafzinsen belegt. Zusätzlich steigen die Bankgebühren immer weiter, weil die Geschäftsbanken das Verlustgeschäft aus dem negativen Einlagenzins ausgleichen möchten.

Anmerkung am Rande:Bei einem positiven Einlagenzins verdient eine Bank mit dem Guthaben der Kunden automatisch Geld. Sie muss es nicht einmal investieren. Schon aufgrund der Tatsache, dass es auf dem Girokonto liegt, vergütet die EZB das Ganze. Aus diesem Grund reissen sich die Banken in solchen Zinsphasen um Girokonto-Kunden – leichter lässt sich Geld nun wirklich nicht verdienen!“

EZB will Menschen zum Konsumieren „zwingen“

Hinter den Massnahmen steckt der Wunsch des EZB-Vorstands, den Konsum zu fördern. Indem Sparen durch Strafzinsen unattraktiv wird, lohnt es sich eventuell mehr, es auszugeben. Dazu passen auch die Pläne der EZB, das Bargeld schrittweise einzuschränken. Man stelle sich nur eine Welt ohne Bargeld vor: Die EZB könnte jederzeit Strafzinsen in beliebiger Höhe festlegen und die Bürger müssten dies einfach hinnehmen. Der Fluchtweg über das Abheben von Bargeld und die Lagerung zu Hause fiele dann einfach weg. Ausserdem liessen sich Geldströme ohne Bargeld im zentralisierten Wirtschaftssystem komplett kontrollieren, was den „gläsernen Verbraucher“ zur Folge hätte und der EZB zu mehr Kontrolle verhilft.

B) DeFi bedeutet Freiheit: So funktioniert das Ganze

In einem dezentralen Finanzsystem fallen die obigen Problematiken zu einem erheblichen Teil einfach weg. Der grosse Vorteil liegt nämlich darin, dass das System selbst nur durch die Anwesenheit der Teilnehmer funktioniert – es gibt also keine über allem stehende Kontrollinstanz. Zusätzlich fallen auch die anderen Intermediäre wie Banken weg, da sie im DeFi einfach nicht notwendig sind.

Dort funktioniert alles über 3 wichtige Komponenten:

  1. Blockchain-Technologie

Die Blockchain-Technologie bietet die Möglichkeit, alle Transaktionen transparent und trotzdem verschlüsselt zu speichern. Das macht die ganze Angelegenheit sehr sicher gegen Fälschungen und Betrug. Die heutigen DeFi-Apps setzen dabei zu 80% auf die Ethereum Blockchain.

  1. Smart Contracts

Der Begriff lässt sich als „intelligente Verträge“ übersetzen und beschreibt einmalig festgelegte Prozeduren, die bei ihrer Aktivierung automatisch durchgeführt werden. Vorher erfolgt jedoch noch eine Prüfung, ob die jeweiligen Bedingungen erfüllt sind. Lässt sich dies bejahen, wird eine Transaktion ohne menschliches Zutun abgewickelt. Smart Contracts werden in der Blockchain gespeichert und stehen als DeFi-Protokolle oder dezentralen Apps (dApps) zur Verfügung.

Doch auch ausserhalb der Kryptowelt kennt jeder von uns Smart Contracts. Ein gutes Beispiel hat er hier bereits aufgezeigt. Ein Geldautomat prüft vor dem Abheben von Bargeld ebenfalls, ob die Bedingungen (Identifikation des Nutzers per PIN sowie ausreichendes Guthaben) erfüllt sind. Ist dies der Fall, wird die Geldausgabe ohne das „okay“ eines Bankmitarbeiters automatisiert ausgeführt. Smart Contracts erlauben es, beinahe jede finanzielle Transaktion abzubilden und so einen selbstfahrenden Finanzmarkt zu erzeugen.

  1. Kryptowährungen

Kryptowährungen lassen sich mittels Blockchain-Technologie umsetzen und sind somit das Zahlungs- sowie Wertaufbewahrungsmittel im DeFi.

Aus den oben genannten Komponenten ergibt sich am Ende ein grosser Gewinn an Freiheit. Folgende Beispiele erläutern dies sehr eindrucksvoll:

Lending: Dezentrale Kreditvergabe

Bereits heute bieten DeFi-Protokolle wie MakerDAO, Compound oder auch Aave die Möglichkeit, dezentral Geld zu verleihen und auszuleihen. Dabei nutzen Investoren Coins, die sie in Form von Token zur Verfügung stellen. Andere Nutzer können die Token ausleihen und zahlen dafür Zinsen. Der grosse Vorteil liegt darin: Alles passiert dezentral, so dass die Token direkt vom Investoren zum Kreditnehmer wandern. Es ist also keine Bank zwischengeschaltet, die hohe Gebühren berechnen könnte. Darüber hinaus funktioniert die Auszahlung deutlich schneller als bei einer herkömmlichen Kreditvergabe. Für Kreditnehmer lohnt sich das Ganze vor allem bei Stablecoins wie DAI von MakerDAO, wo Zinsen zwischen 6-12% durchaus möglich sind – bei kalkuliertem Risiko.

Hier vereinen sich also bereits 3 grosse Vorteile:

  • Höhere Geschwindigkeit
  • Geringere Gebühren
  • Kein Übergang der Verfügungsgewalt des Geldes auf einen Intermediär wie eine Bank

Durch Smart Contracts existieren genau festgelegte Bedingungen. Erfüllt ein Kreditnehmer diese, wird der Kredit vergeben und die Auszahlung erfolgt. Der Faktor Mensch wird aus dieser Gleichung gestrichen, was mögliche Fehler, Kosten und Verzögerungen beseitigt.

Hinweis: Lending funktioniert auch über bekannte Krypto-Börsen wie Binance oder die deutsche Lösung Nuri. Allerdings existieren auch hier in den Plattformen wieder Intermediäre.

DeFi-Zahlung: Keine Intermediäre nötig

Es gibt natürlich schon dApps wie Tornado cash oder Sablier, die Zahlungen zwischen zwei Wallets ermöglichen. Auch diese erfolgen dezentral, so dass keine Bank Zugriff auf das Geld erhält. Der Smart Contract zur Zahlung wird angestossen und bei Erfüllung aller Bedingungen (ausreichendes Guthaben, verifizierte Zahlungsteilnehmer) automatisch durchgeführt. Auch hier liegen die Vorteile auf der Hand:

  • Der Empfänger verfügt sofort über das Geld (keine langen Wartezeiten)
  • Die Gebühren fallen verschwindend gering aus

Zusätzlich zeigt sich auch ein Freiheitsaspekt, der oft vergessen wird: Für Zahlungen im CeFi benötigen wir normalerweise ein Girokonto. Dafür müssen wir jedoch bei einer Bank einen „Antrag“ stellen. Somit entscheidet die Bank am Ende, ob wir überhaupt an dieser Form des Zahlungsverkehrs teilnehmen dürfen. So etwas kommt im DeFi nicht vor, denn jeder mit einer Wallet und einem Internetzugang ist in der Lage, die Finanzprodukte in einem dezentralen Finanzsystem zu nutzen.

„Wer also ein freies, unzensiertes, sicheres und jederzeit offenes Finanzsystem nutzen möchte, findet in DeFi eine optimale Lösung. Dies gilt umso mehr in totalitären Gesellschaftssystemen, denn über DeFi lassen sich Vermögenswerte vor dem Zugriff des Staates schützen“, erklärt Steinberg weiter.

DeFi bietet heute schon viele Möglichkeiten

Zusätzlich zu den oben genannten Transaktionen wie die dezentrale Kreditvergabe oder digitale Zahlungen stehen Nutzern im DeFi schon heute sehr viele Möglichkeiten in Form von dApps zur Verfügung. Auf diesem Weg lassen sich ansehnliche Renditen erzielen.

Dazu gehören:

  1. Staking

Beim Staking sichern Investoren das Netzwerk einer Kryptowährung ab, indem sie eigene Coins als Sicherheit hinterlegen. Wie beim Mining erhalten sie dabei eine Belohnung (Reward) in Form neuer Coins dieser Währung. So lassen sich also Vermögenswerte vermehren und das je nach gewählter Währung auf eine verhältnismässig sichere Art und Weise. Anleger sollten jedoch beachten, dass beim Staking heute nicht selten hohe Anfangsinvestitionen erforderlich sind. DApps wie Uniswap bieten Staking aber auch Liquidity Mining an.

  1. Liquidity Mining

Das Liquidity Mining funktioniert ähnlich wie das Staking, nur dass die eigene Investition in Form eines Währungspaares wie ETH/DAI erfolgt und einem Automatic Market Maker zur Verfügung gestellt wird. Von dort können andere DeFi-Nutzer die Coins tauschen oder anderweitig verwenden. Die daraus entstehenden Gebühren fliessen an alle Investoren. Zusätzlich vergeben Plattformen wie Uniswap auch noch Governance Token, mit denen Investoren ein Mitspracherecht an der künftigen Gestaltung erhalten.

  1. Dezentrale Krypto-Börsen (DEX)

Diese dApps ermöglichen den dezentralen Tausch von Kryptowährungen und auch Derivaten. Hier dürften sich professionelle Trader zu Hause fühlen. Besonders vorteilhaft: Die Handelsgebühren sind im Vergleich zu herkömmlichen Börsen verschwindend gering. Darüber hinaus erfolgt auch hier ein direkter Austausch der jeweiligen Assets, so dass kein Intermediär zwischenzeitlich Zugriff darauf hat.

Darüber hinaus stehen noch viele weitere dApps zur Verfügung, die ganz unterschiedliche Transaktionen ermöglichen:

  • IPSE (Suchmaschinen-App mit dem IPFS-Format für eine Dezentralisierung des Internets)
  • Gitcoins Grants (Crowdfunding für Projekte auf Ethereum-Basis)
  • Nexus Mutual (Versicherung gegen Smart Contract Hacks und Bugs)

Dies ist vor allem deshalb sehr eindrucksvoll, weil die Entwicklung noch ganz am Anfang steht. Der Open-Source-Ansatz für Entwickler macht DeFi jedoch zu einem Ökosystem der Innovationen. In Zukunft dürften also noch viele weitere Anwendungsmöglichkeiten hinzukommen, von denen wir bislang vielleicht noch keinerlei Vorstellung haben.

DeFi wird das Finanzsystem revolutionieren

Marvin Steinberg ist begeistert: „Ein Blick auf die Funktionsweise und die rasant steigende Beliebtheit von DeFi zeigt, welches Potenzial in dieser Technologie steckt. So wuchs der Total Value Locked (Liquidität im DeFi) zwischen Mai 2020 und Mai 2021 um 8.800% auf 88 Milliarden US-Dollar. Es gibt keinen Fall von vergleichbar hohem Wachstum in so kurzer Zeit. Und dies ist der Anfang.“ Er zeigt sich fest davon überzeugt, dass dezentrale Finanzsysteme schon in wenigen Jahren eine bedeutende Rolle in unserem Alltag spielen werden.

Die Vorteile liegen dabei klar auf der Hand: DeFi bietet für die Nutzer endlich weniger Fremdbestimmung und mehr Freiheit. Darüber hinaus lassen sich die Kosten erheblich senken und die einzelnen Transaktionen fallen auch noch deutlich schneller aus. „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis DeFi eine kleine Revolution auslösen und in der Zukunft das herkömmliche Finanzsystem sogar obsolet machen könnte.“

Weitere Tipps für alternative Anlagen